Finde ich auch, wobei mir die Ursache der Unruhen, nicht ganz ersichtlich ist. Die Tatsache, dass eine Hitzewelle über der Stadt liegt und dass durch den niedrigen Wasserstand der verseuchten Themse ein unerträglicher Pest-Gestank über der Stadt liegt, kann es allein nicht sein. Der Kampf Mallorys mit den Anhängern Kapitän Swings deutet an, dass sich in der Gesellschaft bereits einiges Revolutionspotential bei den zu kurz gekommenen und den Verlierern des Systems aufgestaut zu haben scheint. Die schöne neue Industriewelt der herrschenden Radikalen Partei bekommt ihre ersten Risse. Ebenso deuten die Geruchsprobleme auf schwerwiegende Umweltprobleme hin, die allerdings nicht weiter ausgeführt werden (leider).Gegen Ende der dritten und über den gesamten Verlauf der vierten Iteration wurde mMn der Ausnahmezustand Londons eindrucksvoll - durch die Unruhen und dem wütenden Mob, der marodierend durch die düsteren Straßen der Stadt zieht - beschrieben.
Ächz. Sehr peinlich das Ganze. Man könnte zum Asketen werden, wenn sich der Sex nur so abspielen würde … Andererseits fand ich diese Szene, den damaligen Zeitumständen entsprechend, sehr glaubhaft beschrieben. Zum Beispiel auch der (für uns heutige) eher skurile Wunsch Mallorys, unbedingt vorher die Beine Hettys sehen zu wollen. In der viktorianischen Zeit waren die Frauen ja von oben bis unten zugeknöpft und die erotischen Objekt-Fantasien der Männer entzündeten sich bereits an Körperteilen der Frauen, die für uns heute nicht mehr diesen Reiz des Verbotenen ausüben ...Die Sexszene mit Hetty zwischendurch war so ziemlich das komplette Gegenteil von allem, was ich als erotisch bezeichnen würde.
Wobei man sagen muss, dass die einzelnen Erzählstränge zu sehr voneinander losgelöst sind, um ein kohärentes Ganzes zu bilden. Die Geschichte um Sybil Gerard hat mit Mallorys Geschichte im Grunde nichts zu tun, außer der Gemeinsamkeit der Lochkarten und der einen und anderen Person.Manche Szenen hätte man sicherlich weglassen oder abkürzen können, da stimme ich dir zu, aber als eine zerfasernde Handlung empfinde ich es eigentlich nicht. Ich sehe es bisher eher als eine dreiteilige Handlung (Sybils Flucht, Mallorys Kreuzzug gegen seine Verleumdung, Oliphants Aufklärung), bei der die Lochkarten Ada Byrons das umrahmende Netz bilden. Und dieses wird durch verschiedene Querverweise mittels wiederkehrender Personen oder nochmals aufgerollter Ereignisse langsam entsponnen.
Die Lochkarten, oder der Modus, haben nach meinem Eindruck lediglich die Funktion eines MacGuffin, ein Objekt, das Handlungen in Gang setzt, dessen Besitz von allen angestrebt wird, dessen wahre Bedeutung aber unwichtig ist. Ich rechne nicht mehr damit, dass das Rätsel der Lochkarten gelöst wird, bzw. dass ihre Funktion irgendeine tiefere Bedeutung hat.
Inzwischen ist mein Eindruck von dem Roman, dass in ihm der Zufall eine große Rolle spielt. Es wird eigentlich keine fortlaufende zusammenhängende Geschichte im klassischen Sinn erzählt, der ein Konzept zugrunde liegt, bei dem beispielsweise ein Rätsel im Mittelpunkt steht, das gelöst werden muss, oder eine spannungsreiche oder phantastische Geschichte.
Der Mallory-Erzählstrang entwickelt sich doch im Wesentlichen rein zufällig. Da ist auch kein zugrunde liegender Plan erkennbar. Beim Dampfwagenrennen, gewinnt Mallory eher zufällig eine beträchtliche Menge Geld und kommt rein zufällig in Besitz der Karten. Im Wesentlichen sind es wieder die Lochkarten, die die Ereignisse des Mallory-Erzählstrang in Gang setzen. Doch alles Weitere ergibt sich rein zufällig. Er trifft auf den Politiker Oliphant, der vage Andeutungen macht und weit reichende Beziehungen hat, dessen wahre Absichten aber offen bleiben, er trifft zufällig die Prostituierte Hetty, die zufällig die Zimmergenossin von Sybil Gerard war, er trifft zufällig die Plakatkleber, die jene Plakate kleben, die ihn verleumden, er taumelt in einen Aufruhr der sich scheinbar zufällig aus dem Nichts aufbaut, er begibt sich mit seinen Brüdern, auf einen Rachefeldzug, der sich zu einer wilden Schiesserei entwickelt und erledigt dabei eher zufällig seinen Widersacher Kapitän Swing. Es wirkt alles so, als würden wir einige Zeit mit einer beliebigen Person verbringen, die willkürlich aus jener Zeit herausgegriffen wurde und mit ihr den Tag erleben und sehen wohin uns die Ereignisse führen. So erscheint mir der Mallory Erzählstrang. Ob diese Vorgehensweise einen Roman trägt? Ich weiß es auch nicht. Es ist oder war auf jeden Fall interessant und spannend, Mallory eine Weile auf seinem (Lebens-) Weg zu begleiten.
Zum Klappentext: eigentlich lasse ich mich davon nicht beeinflussen, allerdings dachte auch ich, dass die Handlung mehr in Richtung politische Verschwörung oder Überwachungsstaat hinauslaufen würde, was ja bislang definitiv nicht stimmt. Es sei denn der Roman nimmt sich im letzten Kapitel noch dieses Themas an.
LG Trurl
Bearbeitet von Trurl, 21 April 2012 - 16:21.